Wer in Tunesien über die Märkte schlendert, begegnet einer Fleischkultur, die sich radikal von der europäischen unterscheidet: Vor einer Metzgerei baumelt der Kopf eines frisch geschlachteten Kamels, daneben hängen Beine mit Fell – ganze Tierhälften werden gut sichtbar angeboten. Für viele von uns, die mit abgepacktem Fleisch im Supermarkt aufgewachsen sind, mag das zunächst befremdlich wirken. Roh. Vielleicht sogar pietätlos.
Doch hinter dieser Fleischkultur in Tunesien verbirgt sich eine tief verwurzelte Logik – und eine Art von Ehrlichkeit, die in westlichen Systemen oft verloren gegangen ist. In Europa bevorzugen wir saubere Verpackungen und weit abgelegene Schlachthäuser – das Tier wird zur Ware, der Tod ausgeblendet. Die meisten möchten beim Fleischkauf nicht daran erinnert werden, dass dafür ein Lebewesen gestorben ist.
Inhalt auf einen Blick
Der Kopf als Herkunftsangabe und Qualitätssigel
Der Kopf vor der Metzgerei zeigt deutlich: „Hier wurde heute geschlachtet – das Fleisch ist frisch und stammt von genau diesem Tier.“ Es ist eine Art transparente Herkunftsangabe – ohne Etikett, ohne Verpackung, aber mit maximaler Direktheit.
In Tunesien funktioniert Fleischkultur über Sichtbarkeit – nicht über Verpackung oder Etiketten. Besonders bei Schafen und Ziegen erkennt man am Kopf (v. a. den Augen und dem Maul), ob das Tier krank war. Ein unverletzter Tierkopf mit klaren Augen und sauberer Nase bedeutet: „Keine Krankheiten, keine äußere Entzündung, keine Auffälligkeiten.“ Für viele Kunden – gerade ältere – ist das ein wichtiges Kriterium. Sie schauen genau hin.
Diese Form der Fleischkultur ist für viele europäische Reisende schwer zugänglich, aber sie folgt einer klaren inneren Ordnung. Für viele Tunesier ist es ein Zeichen von Frische und Ehrlichkeit. Nicht respektlos – sondern im Gegenteil: Das Tier wird als Ganzes gesehen, nicht nur als Produkt.
Es kann sogar soweit gehen, dass dem Schlachttier symbolisch ein letztes Mahl gereicht wird, d. h. dem geschlachteten Tier wird ein kleiner Kräuterstrauß ins Maul gesteckt. Besonders bei Kamelen, die als treue Arbeitstiere angesehen werden, ist das ein stiller Akt der Abschieds: „Du hast gedient. Jetzt bekommst du dein letztes Mahl.“
Bestimmte Kräuter (z. B. Minze) gelten im islamischen Volksglauben als reinigend, segnend oder schützend. Indem man das Maul schmückt, will man auch die Seele des Tieres beruhigen. Hinzu kommt, dass im nordafrikanischen Kulturverständnis der Tod nicht hässlich, sondern transformativ ist. Etwas „hübsch“ zu machen, selbst im Tod, ist kein Verdrängen, sondern eine Geste des Respekts.
Halal-Schlachtung als bewusster Akt
Halal-Schlachtung ist ein zentraler Bestandteil der Fleischkultur in Tunesien und reicht weit über religiöse Praxis hinaus. In der islamischen Tradition ist das Schlachten kein rein technischer Vorgang, sondern ein bewusster Übergang. Der Kopf wird sichtbar belassen – als Zeichen der Anerkennung gegenüber dem Tier, das Leben gegeben hat.
Was ist Halal-Schlachtung – im Ursprung?
Die islamische Halal-Schlachtung folgt klaren Vorgaben, die ursprünglich dazu dienten, Leid zu minimieren, Respekt zu zeigen und das Tier rein sterben zu lassen.
Die Grundprinzipien:
- Das Tier muss gesund, unverletzt und ruhig sein.
- Es wird nach Mekka ausgerichtet.
- Der Schlachter spricht den Namen Gottes (Bismillah, Allahu Akbar).
- Mit einem einzigen Schnitt wird die Luftröhre, die Speiseröhre und beide Halsschlagadern durchtrennt.
- Das Herz schlägt noch einige Sekunden weiter – und pumpt so das Blut aus dem Körper. Das Tier verliert schnell das Bewusstsein.
Wichtig: Die ursprüngliche Halal-Schlachtung ist nicht dafür gedacht, das Tier lange leiden zu lassen. Es soll achtsam, schnell und respektvoll gehen.
Warum der Ruf der Halal-Schlachtung (in Europa) oft so negativ ist
In vielen westlichen Debatten – oft emotional aufgeladen – wird Halal-Schlachtung gleichgesetzt mit: langsamem Verbluten, fehlender Betäubung und „religiöser Grausamkeit“.
Fakt ist: In industriellem Maßstab, ohne Zeit, Mitgefühl oder Erfahrung – kann Halal-Schlachtung grausam werden. Aber: Das gilt genauso für jede andere Schlachtmethode. Auch in westlichen Betrieben sterben Tiere unter Panik, Schmerz, Stress – trotz Bolzenschuss.
Warum die ausgestellten Tierköpfe in Tunesien „friedlich“ aussehen
Ich habe mir die Tierköpfe genau angesehen – und keine Spuren von Angst oder Todeskampf entdeckt. Es sieht eher aus, als ob die Tiere schlafen. Es wurde also schnell getötet und nicht traumatisiert.
- Ruhige Schlachtung in kleinem Maßstab
In vielen tunesischen Geschäften wird nur ein Tier zur Zeit geschlachtet – oft mit Erfahrung, Ruhe, Respekt. Das Tier wird nicht gehetzt oder fixiert in Panik.
Das macht einen gewaltigen Unterschied für den Sterbeausdruck. - Schnelligkeit und Präzision
Ein erfahrener Schlachter kann den Schnitt so gezielt und sauber setzen, dass das Tier sehr schnell das Bewusstsein verliert – ohne wilden Todeskampf. Das Tier stirbt nicht im Chaos.
Halal-Schlachtung ist weder per se grausam noch per se sanft – sie ist das, was der Mensch daraus macht.
Warum dieser Respekt nicht auf lebende Tiere übertragen wird
So beeindruckend die Rituale rund ums Schlachten auch sind – umso irritierender ist der oft lieblos wirkende Umgang mit lebenden Tieren. Besonders Esel, Hunde oder Katzen erfahren wenig Zuwendung. Straßentiere gehören zum Alltag, doch ihre Versorgung bleibt meist vage – wenn sie überhaupt stattfindet. Es ist ein kultureller Bruch: Würde im Tod, Funktionalität im Leben.
Nutztierlogik:
Tiere wie Esel oder Hunde haben meist funktionalen Wert. Wenn sie nicht „nützlich“ sind, wird ihre Würde oft übersehen. Es fehlt oft die Vorstellung von eigenem Tierwert jenseits von Nutzen – besonders bei älteren Generationen oder im ländlichen Raum.
Erziehung & kulturelles Gedächtnis:
Mitgefühl für Tiere wird nicht systematisch vermittelt. Viele wachsen mit Härte gegen Tiere als Normalität auf. Das ist kein persönlicher Mangel – sondern kulturell tradiert.
Fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten:
Viele Familien könnten besser für ihre Tiere sorgen – tun es aber nicht, weil Ressourcen, Aufklärung oder Prioritäten fehlen. Oft geht es einfach ums Überleben – Tierwohl steht da weiter hinten.
Kulturelle Widersprüche aushalten lernen
Als Reisende zwischen den Welten ist es eine Kunst, diese Widersprüche nicht vorschnell zu verurteilen – und sich doch eine klare Haltung zu bewahren. Es hilft, Symbole nicht als Trigger zu sehen, sondern als Einladung zum Nachdenken. Was sagt mein Unbehagen eigentlich über mein eigenes Wertesystem?
Fünf Impulse für das Wandeln zwischen den Welten
- Wahrnehmen – würdigen – positionieren. Sieh hin, nimm wahr, finde deinen inneren Standpunkt. Ohne Überheblichkeit, aber mit Klarheit.
- Bleib Zeuge, nicht Richter. Kulturelle Praktiken sind oft komplexer, als sie scheinen. Beobachte – mit offenem Blick, nicht erhobenem Zeigefinger.
- Halte dein inneres Feld klar. Erlaube dir einen täglichen Rückzug. Nicht alles, was dich umgibt, gehört in dein Innerstes.
- Pflege deine eigene kulturelle Integrität. Du musst dich nicht auflösen, um offen zu sein. Stärke deine Wurzeln – sie helfen dir, empathisch zu bleiben.
- Sei ein Vorbild. Du musst nicht missionieren – aber du darfst stilles Vorbild sein. Durch Klarheit. Durch Gespräche. Durch das, was du tust, nicht nur das, was du sagst.
Manchmal ist das größte Geschenk des Reisens nicht das, was wir sehen – sondern das, was wir beginnen zu verstehen.
Die Fleischkultur in Tunesien konfrontiert uns mit Fragen, die wir uns selten stellen: Wie weit wollen wir beim Fleischkonsum Verantwortung übernehmen? Was heißt es, wenn ein Tier sichtbar stirbt? Und warum verstecken wir den Tod im Westen so gründlich hinter Plastik und Etiketten?
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